60 Jahre klassische Reitkunst

60 Jahre klassische Reitkunst Klassische Musik, Blumen an der Bande, eine historische, aus Buntsandstein gemauerte, lichtdurchflutete Reithalle mit offenliegendem Holzfachwerk und Ruhe, sehr viel Ruhe. Das ist der Rahmen, indem sich eine ganz normale vormittägliche Reitstunde auf Schulpferden im Reitinstitut Egon von Neindorff in Karlsruhe abspielt.

Eine Reitstunde, die mit viel lösender Schrittarbeit wie Schenkelweichen, Vorhandwendung etc, beginnt und in der nach kurzer Arbeitsphase immer wieder ein „Zügel-aus-der-Hand­-Kauen“ gefordert wird. Die Bedeutung des Schritts in der täglichen Arbeit – von vielen gepriesen -, hier wird sie praktiziert, und so ganz nebenbei sieht man auch kauende Pferde im Halten und vor allem Pferde, die halten. Ruhig, gelassen, entspannt

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Knigge im Reitstall
Unterhält man sich beispielsweise mit dem mit 86 jahren ältesten Reitschüler des Instituts, dann wird schnell deutlich, dass es hier neben dem Reiten auch noch um mehr geht, nämlich um eine ganz allgemeine Einstellung und wohl oft vergessene Umgangsformen: ,Auf dem Pferd sagt man nie ein Widerwort, und wenn man absitzt, dann in gehührender Form.‘

Da wird man kurz daran erinnert, dass die FN mittlerweile schon einen Hippo-Knigge mit Tipps für das höfliche Miteinander herausgeben muss, und das lässt verstehen, dass unter anderem auch diese Atmosphäre im Umgang unter- und miteinander ein Aspekt ist, der leider oft nicht mehr praktiziert wird und deswegen für viele zur Besonderheit beiträgt. Auch die von ihm angesprochene, sonst vielerorts spürbare Arroganz gegenüber den Verleihpferdereitern dürfte manchem aus dem Vereinsalltag wohl nur zu bekannt sein.

Dass dies hier nicht so ist, unterstreicht eigentlich auch die Gegenargumente zu dem Vorwurf, gegen den man sich immer wieder wehren muss: ,Wir sind nicht so abgehoben.“ Diese verkannte Offenheit beginnt, ganz in der Tradition von Egon von Neindorff, bei den Pferden aller Rassen, die sich im Institut finden, und setzt sich bei den Reitschülern aller Leistungsstufen fort. Nur: lernen, sich einlassen, müssen diese wollen. Und auch hierfür hat er ein Zitat parat: ,,Die meisten Reiter wollen durch Lob korrumpiert und nicht durch Kritik verbessert werden!‘. Insofern mögen die Reitschüler hier vielleicht etwas Elitäres an sich haben, Sie wollen/müssen das zulassen, was viele Reiter heute eben nicht mehr hören wollen: Kritik an den eigenen Reitkünsten und der ständige Wunsch nach Verbesserung.

Historische Anlage

Der Rahmen ist und bleibt in jeder Hinsicht das Besondere: Das Reitinstitut hat seinen Sitz in einer ehemaligen denkmalgeschützten Tele­grafenkaserne, mittlerweile quasi als grüne Insel mitten in der Stadt Karlsruhe, direkt neben einer Kirche in einem Wohngebiet.  Die in den Jahren 1906/07 erbaute Anlage wurde auch in den beiden Weltkriegen nie zerstört und diente von Beginn an immer demselben Zweck – der Pferdeunterbringung. Bis 1918 war hier dann auch gemäß der vorgesehenen Bestimmung die Telegrafeneinheit des preußischen Heeres mit ihrem Pferdebestand untergebracht, der später von 1936 bis 1945 berittene Einheiten der Wehrmacht folgten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schließlich der Bund Eigentümer des Ensembles, das im Jahr 1949 von Egon von Neindorff bezogen wurde.

Zu Beginn waren in der später durch einen Verbindungsgang zwischen Stallgebäude und Reithalle zu einem L-förmigen Gesamtkomplex verschmolzenen Anlage bis zu 130 Pferde im Sinne der Anbindehaltung untergebracht. Dies war in dem 128 m langen und 11.5 m breiten Stall auch nur durch eine adäquate Gebäudehöhe und ein entsprechendes mechanisches Entlüftungssystem möglich. Egon von Neindorff konnte vorerst nur einen Teil des Stallgebäudes nutzen, da mittlerweile auch ein Handwerksbetrieb dort ansässig war. Mit bis zu 70 Pferden dennoch gut ausgelastet, entwickelte sich der als ,Reit- und Turnierstall“ begonnene Betrieb im Laufe der Zeit zu dem ,Reitinstitut“, unter der Bezeichnung er auch heute noch fortgeführt wird.

Der Betrieb heute

jub60monnwalburga1990 wurde die Stadt Karlsruhe Eigentümerin des Geländes, das nach der Gründung der ,,Egon-von­Neindorff-Stiftung“ 1991 von derselben zur Pacht übernommen wurde. Ende der 90er wurde die Reithalle saniert und nach und nach 50 Boxen in den Stalltrakt eingebaut. Mittlerweile bieten 10 Paddocks, Reitplatz und zusätzliche Trainingshalle noch mehr Möglichkeiten. Rund 40 Pferde sind dort eingestellt, einige Boxen werden für Lehrgänge oder Veranstaltungen freigehalten. Denn ,hier kommt die ganze Welt zusammen“:Schüler aus Italien, Australien und Japan finden sich, wenige jedoch aus dem klassischen Turniersport. jub60schnitzerulrich

Nach dem Tod Egon von Neindorffs 2004 wurde das Reitinstitut seit 2005 von Dr. Stefan Wachtarz als Eigenbetrieb der Stiftung weitergeführt. Für die reiterliche Ausbildung sind die Pferdewirtschaftsmeister Armin Dietrich und seit Beginn 2009 Axel Schmidt als reiterlicher Leiter des Insti­tuts zuständig, der außerdem ab 1. Januar 2010 auch die Leitung des gesamten Instituts übernehmen wird. Auch die intensive Zusam­menarbeit der Stiftung mit dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Karlsruhe dürfte wohl als außergewöhnlich gelten und wird durch die Arbeit des Fördervereins, dem „Verein klassische Reitkunst nach Egon von Neindorff“, unterstützt.

Blick in die Zukunft

jub60tippelelisabethDemnächst wird das Stallgebäude komplett für das Reitinstitut nutzbar sein, wodurch sich auch noch zusätzliche Freiflächen für weitere Paddocks erschließen lassen. Auch wenn nach den personellen Veränderungen die Devise lautet, erst einmal anzufangen und die Hülle wieder zu beleben, statt Zukunftsmusik zu spielen, hat man doch einige Wünsche.   So hofft man, das Reitinstitut auch als kulturelle Einrichtung der Stadt Karlsruhe etablieren zu können und die Weitergabe von Reitkultur im Sinne des Gründers (in fachlicher Hinsicht) weiter vorantreiben zu können. Und natürlich hätte man auch nichts einzuwenden, wenn sich noch mehr Jugendliche auf die innerstädtische Insel verirren würden.

Daniela Frühauf (Reiterjournal)